Ihre Jeans sind zerschlissen, viel mehr als jene für die Du vor ein paar Jahren schon mehr bezahlt hast weil sie Löcher hatten, es war Mode. An den Beinenden sind sie ausgefranst an Oberschenkeln und Hintern hat hartnäckiger Dreck seinen Platz im Gewebe erobert. Ein pinkiges Trainer-Jäckchen umschliesst ihre schlanke Taille. Ihre Augen haben sich weit in ihre Höhlen zurück gezogen, ihre Backenknochen stechen durch die Haut wie die Rippen durchs Fell eines verhungernden Tieres. Ihre knapp zu den schmalen Schultern reichenden, dunkelblonden Haare sind so dünn und spärlich, dass sie sich nicht mal mehr richtig zerzausen können. Es geht ihr nicht gut, der jungen Frau die ich zweimal im Wohnquartier in dem mein Hotel steht sehe.
Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs und beide Male weicht sie mir aus, einmal wechselt sie gar die Strassenseite, es erinnert mich an die streunenden und oft geschlagenen Hunde, die auch bei der ersten Begegnung sicherheitshalber immer erst mal ausweichen. Bei der zweiten zufälligen Begegnung verlangsame ich meine Velofahrt, versuche mit der jungen Frau Augenkontakt zu schaffen, für den Bruchteil einer Sekunde treffen sich unsere Blicke, bevor sie in Richtung des nahen Parks verschwindet. Ich frage mich wie jung sie wohl sein mag, 25, 28 vielleicht dreissig, mehr auf keinen Fall. Man sieht ihren Gesichtszügen und der Figur noch an, dass sie einst ein hübsches Mädchen war. Wie ich meines Weges radle erinnere ich mich an die jungen Frauen die jeweils in Zürich an der Josef- oder Konradstrasse wo ich wohnte versuchten Hasch an Mann und Frau zu bringen und so ihre Sucht für stärkere, härtere Sachen zu finanzieren.
Dort konnte ich diesen Zerfall und den sozialen Abstieg jeweils, ungewollt über Monate mitverfolgen, wie Anfangs ein bisschen Scheu gefragt wird "Hasch...? Hasch..? Was suechsch, was bruchsch?" später bestimmter, später desperater und irgendwann ständig nervös, fast schon zappelig, Monate später weicht die Farbe aus den Wangen, irgendwann die Lebensfreude aus den Augen, irgendwann bleiben die Kleider immer die selben, die Frisur wird ungepflegter, das Make-up dicker aufgetragen, seine Wirkung verfehlend und irgendwann stehen sie nicht mehr an "ihrer" Ecke im Quartier.
Ich sause mit meinem Klapprad zwischen den stehenden oder sich nur langsam bewegenden Autokolonnen durch die Rush-Hour. Ein bisschen komm ich mir vor wie ein Velokurier in Zürich, London oder New York. Die Luft ist schlecht, die Busse qualmen schwarz aus ihren Seitenauspuffen, obwohl die Chancen auf Bewegung in der Kolonne gering sind, wird irgendwo weit hinten gehupt, dann stimmt der eine oder der andere in der Kolonne ein, irgendwo pfeift und hupt die Alarmanlage eines Autos wie ein amerikanisches Polizeiauto. Keiner schaut hin. Und da vorne am Rotlicht, ich erkenne sie sofort, sie geht von Auto zu Auto, sie hält beide Hände flach zusammen und schüttelt sie leicht vor und zurück, wie Don Camillo wenn er seinen Hirten anruft, sie geht von einem Auto zum anderen und versucht so etwas zu erbetteln, zwischendurch nestelt sie nervös am Reisverschluss ihres Jäckchens rum. Versucht sie hier mit einem Busen-Flitzer zu Geld zu kommen? Ich weiss es nicht und will es nicht wissen, sie beachtet mich nicht, ich zische zwischen ihr und einem Land Cruiser der staatlichen Energie Organisation vorbei. Das Lichtsignal wechselt von orange auf rot, das schafft der Velokurier noch. Mitten auf der Kreuzung drehe ich ab ohne viel zu überlegen, der grosse grüne Stadtbus hat einen Frühstart hingelegt und wie ich da im Kuriertempo vor ihm über die Kreuzung rase hupt er wild. Statt Richtung Hotel zu radeln, pedale ich jetzt links und von der Brücke runter zu einem grossen Supermarkt.
Dort gibt es eine in-house Bäckerei, mit dieser unhandlichen Klammer mit der ich mir immer vorkomme wie Neil Armstrong der mit seinem unbeweglichen Mond-Anzug Gesteine zusammen zu sammeln versucht, klaube ich eine Blätterteigtasche mit Hühnchen Füllung, eine mit Fleisch, die mit Käse fällt mir zum dritten mal aus der doofen Klammer, ich gucke kurz links, dann rechts dann stopfe ich sie von Hand in die knisternde Plastiktüte. Vielleicht mag sie ja etwas nicht, also Käse, Hühnchen, Fleisch kann nicht falsch sein. Ich verdränge den Gedanken gleich wieder. Wenn es Dir so geht, dann, dann bist Du weit über den "das mag ich nicht" Status hinaus. Also ich kann sicher kaum was falsch machen. Eine Flasche Cola, soll ich, oder soll ich nicht? Und ja, ich steck auch eine Büchse Bier ins Körbchen, bei den Biscquits gucke ich, welches die teuerste Packung ist, ein dunkles Gebäck mit Schokoladenfüllung, die kommen mit. Zwei Äpfel noch, sonst noch zwei, drei Dinge irgendwie habe ich das komische Gefühl mich beeilen zu müssen und das mache ich auch.
Ich pedale entgegen dem Einbahnstrom der Autos die Auffahrt hoch auf die Schnellstrasse, es gibt keine andere schlaue Möglichkeit über die andere achtspurige Strasse zu kommen als eben diese Brücke. Der Verkehr steht eh fast. Oben läuft es, ich schleuse mich in den langsam fliessenden Verkehr ein, einmal bin ich ein bisschen schneller das andere Mal langsamer als die Autos. Wenige Minuten später steure ich wieder auf die nicht grosse aber mit 5 Strassen die zusammenkommen, komplizierte Kreuzung zu. Ich kann das schmutzige pinkige Jäckchen aber nirgends mehr zwischen den Kolonen ausmachen. Ich fange schon an mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass ich heute Teigtaschen und Schoko-Cookies zum Abendessen verzehre, als ich sie auf der anderen Seite der Kreuzung erblicke, mit hängenden Schultern schlendert sie von mir weg auf dem schmalen, unebenen Gehsteig. Das Lichtsignal schaltet auf grün, mit vielen Motorrädern und einem grossen Bus gemeinsam steure ich den leichten Anstieg hoch. Die Plastiktüte hängt an meinem Lenker, ich hänge sie ab und halte sie jetzt in der Hand. Millimeter neben mir röhrt der Bus, rechts von mir ein 60 cm tiefer Beton Strassengraben, dann dreht sie sich um und guckt mir genau in die Augen, ich halte die Plastiktüte hoch, sie guckt ungläubig und zieht ihre linke Braue hoch: "Für mich?" ich nicke und blinzle ihr zweimal zu, muss aber gleichzeitig auf Bus und Graben achten und in die Pedale treten. Als hätten wir zwei für einen Stafettenlauf geübt, so perfekt funktioniert die Übergabe. "Für mich, für mich?" fragt sie nochmal ungläubig, dann ein scheues "Gracias" ein Blick in die Tüte, dann ruft sie aus voller Kehle "Gracias" der Bus ist vorbei, ich gucke zurück, sie ruft nochmal "Gra-" sie stockt "-cia-as!" und drückt die Plastiktüte mit beiden Armen vor ihre Brust und weint vor Freude.
Jetzt - jetzt bin ich froh nicht angehalten zu haben, mir kullert auch eine kleine Freudenträne über die Wange.
Tränen statt Feuerwerk - ein schöner Nationalfeiertag für einen Schweizer weit weg von Zuhause.
Epilog:
O.k., o.k. Bier, Wurst und Feuerwerk: Der 1. August ist nicht unbedingt "die besinnliche Zeit der Nächstenliebe" oder so was, aber wenn Du da im Garten Dein Bier und Deine Bratwurst in einer Hand zu halten versuchst, damit Du mit der anderen noch ein Feuerwerk zünden und 'gen Himmel schiessen kannst, dann machst Du das doch auch, um Deinen Kindern, Deiner Familie, Deinen Freunden, einfach allen die zugucken, eine Freude zu bereiten. - Genau wie ich.
Berührend schön!
AntwortenLöschenHallo Thomas
AntwortenLöschenWir danke Dir für diesen Bericht.
Er hat uns sehr berührt.
Wir wünschen Dir einen schönen 1. August.
Liebe Grüsse
Fam. Lehner
Wow Thomas, es sollte mehr solche Menschen wie dich geben....hatte Hühnerhaut beim lesen deines Blogs....! Lg Aline
AntwortenLöschenDanke, Ursi.
AntwortenLöschenHerzlichen Dank, liebe Familie Lehner und auch Euch in den Aargau einen ganz schönen ersten August.
Aline, vielen Dank für Deinen rührenden Kommentar. Du hättest das oder sonst irgendwas genau so gemacht wie ich, frau oder man konnte da gar nicht anders als irgendwie ein klein wenig helfen. Danke und auch Dir einen schönen Geburtstag der Schweiz.